Gedicht von Alexei Nawalny oder von Dietrich Bonhoeffer?
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich
träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie
ein Gutsherr aus seinem Schloß.
Wer bin ich? Sie sagen mir
oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und
freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer
bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des
Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer,
der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was
andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von
mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im
Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die
Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach
Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher
Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste
Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große
Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde
und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit,
von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder
jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin
ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir
selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder
gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in
Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin
ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin,
Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
(aus:
Dietrich Bonhoeffer. Widerstand und Ergebung)
Gedicht vom
16.07.1944
hingerichtet am 09.04.1945
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